Mit KI gegen den Heuschnupfen

Spezialistinnen und Spezialisten des OCCR für die Vegetation vergangener Zeiten bringen ihr Wissen in einem Innovationsprojekt ein, das Geräte für das Pollenmonitoring entwickelt. Die Entwicklung setzt auf künstliche Intelligenz und soll das Leben von Menschen verbessern, die unter Allergien leiden.

 

Die Vegetation der Vergangenheit – oft tausende von Jahren zurück – ist das Spezialgebiet von Paläoökologen. Was haben solche Fachleute in einem Projekt verloren, das Allergikerinnen und Allergikern auf der ganzen Welt mit Hightech-Pollenmonitoring Linderung verschaffen will?

Die Antwort: Niemand sonst weiss so gut über Form und Grösse von Pollen Bescheid wie auf Palynologie spezialisierte Paläoökologinnen, die in ihrem Berufsleben bereits Millionen von Pollenkörnern unter dem Mikroskop unterschieden haben. Das Erkennen der unterschiedlichen Arten ist ihr tägliches Brot. Genau deshalb hat die Firma Swisens aus Emmen das Institut für Pflanzenwissenschaften (IPS) der Universität Bern für eine Zusammenarbeit angefragt. «Dank unserer Expertise können wir nicht nur Pollen bestimmen, sondern wir wissen auch, was man überhaupt unterscheiden kann», sagt Christoph Schwörer, der am IPS in der Abteilung Paläoökologie arbeitet und Mitglied des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung ist. Grasarten beispielsweise differenziert zu unterscheiden, sei nicht möglich, da Pollen verschiedener Arten gleich aussehen. Es ist deshalb auch nicht bekannt, auf welche Grasarten Betroffene allergisch reagieren.

Innovationsförderung für besseres Pollenmonitoring

Aus der Anfrage für eine Zusammenarbeit ist ein von InnoSuisse, der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung, unterstütztes Projekt entstanden. Es nennt sich «MARVEL – Emerging data services based on real time pollen monitoring» und vereint unterschiedliche Partner aus Forschung, Entwicklung und Wirtschaft. Ziel ist ein Pollenmonitoring in Echtzeit, das für Allergiker relevante Pollen bestimmt und unter anderem präzisere Pollenberichte ermöglicht. Die Firm Swisens, die hinter dem Projekt steht, hat sich unter anderem auf die automatische Identifikation von Partikeln spezialisiert, und bietet bereits Geräte für das Pollenmonitoring an. Doch ihr Einsatz ist auf die Schweiz beschränkt, da die Software nur für hier vorkommende Pflanzenarten entwickelt wurde.

Für die globalen Ambitionen der Firma und des neuen Projekts reicht das nicht. «Bereits im Mittelmeerraum gibt es ganz andere Pflanzenarten und Pollentypen als bei uns», erklärt Christoph Schwörer. Und hier kommt das Knowhow der Paläoökologen ins Spiel: Sie rekonstruieren zum Beispiel mit Hilfe von Pollen in Seesedimenten die vergangene Vegetationsgeschichte. In den jährlichen Ablagerungen auf dem Boden von Seen finden sie Informationen über natürliche Veränderungen und menschliche Einflüsse, und zwar indem sie die Menge und Art der Pollenkörner bestimmen. Die Mitglieder dieser relativ kleinen Forschungscommunity sind international vernetzt und teilen ihr Wissen. So gibt es zum Beispiel Datenbanken, die Pollentypen aus aller Welt verfügbar machen. Anhand dieser Angaben wird die Forschungsgruppe von Christoph Schwörer nun im Rahmen des InnoSuisse Projekts für alle Regionen der Welt Listen mit den wichtigsten Pollentypen und möglichen Unterscheidungsmerkmalen erstellen.

Algorithmen zum Erkennen von Pollentypen

Gemäss diesen Kriterien werden danach die Monitoring-Geräte darauf trainiert, die Pollenfracht, die sie messen, zu analysieren. Das geschieht mit Hilfe von Machine Learning. Interessanterweise soll in Zukunft die künstliche Intelligenz nicht, wie man meinen könnte, anhand von Abbildungen von Pollen lernen, sondern dazu standardisierte schriftliche Beschreibungen verwenden. Für Pollenkörner der Klappertöpfe (Rhinantus) beispielsweise, eine Pflanzengattung innerhalb der Sommerwurzgewächse, lauten Angaben im Beschreibungsschlüssel so: «Psilat, sphäroidisch, Pole meist abgerundet, Colpi lang, oft etwas eingesenkt. Polarfelder klein bis mittelgross. Colpi meist überall ± gleich breit, auch äquatorial verengt.»

Dass die Algorithmen zum Erkennen der Pollentypen auf Basis solcher Beschreibungen entwickelt werden, hat nicht zuletzt mit der Hardware des gegenwärtigen Monitoring-Geräts zu tun: Die Maschine erfasst die vorbeifliegenden Pollen aus verschiedenen Winkeln mit Laserstrahlen und stellt aus diesen Daten ein dreidimensionales Bild her. Diese Darstellung ist allerdings weniger präzise als die Bilder, welche die Paläoökologen unter ihren Lichtmikroskopen mit 400-facher Vergrösserung betrachten.

Machine Learning soll auch Forschung weiterbringen

Christoph Schwörer sieht seine Forschungsgruppe im Projekt «MARVEL» nicht etwa bloss als Dienstleister. Die Software zur Erkennung von Pollentypen, davon ist er überzeugt, werde auch die Paläoökologie weiterbringen. Denn die Versuche der Forschenden selbst, mit Hilfe von Machine Learing ihre mühselige Bestimmungsarbeit am Mikroskop zu automatisieren, waren bis heute nicht gerade erfolgreich. Das Bestimmen von hunderten verschiedener Pollentypen ist optisch für künstliche Intelligenz zurzeit noch zu schwierig. Deshalb sei das Potenzial der neuen Entwicklung für die Forschung gross, betont Schwörer.

Doch warum eigentlich kennen sich Paläoökologinnen mit heutigen Pollen so gut aus? Sie untersuchen in ihrer Forschung doch jahrtausendealte Körner. «Form und Aussehen sind sehr stabil», so Christoph Schwörer, «in den vergangen zehn- bis zwanzigtausend Jahren hat sich nichts geändert. Da müsste man in der Vegetationsgeschichte Millionen von Jahren oder noch weiter zurückgehen.»

 

(Juni 2024)