«Die Berner Klimaforschung ist international eine Marke»

Thomas Stocker ist eines der Aushängeschilder der Universität Bern und Klimaforscher mit internationalem Renommee. Unter anderem bekleidete er eine Führungsposition im Weltklimarat IPCC. Nun wird er emeritiert. In diesem Gespräch lässt er seine Karriere Revue passieren, erzählt über ein Angebot aus Cambridge und spricht über Orchideen und Rennvelos.

23. September 2013 bei der Verabschiedung des 5. Sachstandsberichts der IPCC Arbeitsgruppe «Physikalische Grundlagen». Bild: Johannes Frandsen

Thomas Stocker, Sie haben an der ETH Zürich Physik studiert. Wie sind Sie zum Klimaforscher geworden?

Thomas Stocker: Ich habe mit Physik begonnen, obwohl ich mich für vieles anderes auch interessierte. 1980 hatte ich dann als Student die Gelegenheit, für zwei Monate im Institut für Schnee- und Lawinenforschung auf dem Weissfluhjoch zu arbeiten, wo ich Simulationen zur Stabilität der Schneedecke machte. In dieser Zeit wurde mir klar, dass mich das Erdsystem faszinierte. Per Zufall erfuhr ich von einem neuen Studiengang an der ETH, der sich Umweltphysik nannte und den ich dann absolvierte. Mein Diplom und mein Doktorat waren dann hochinteressant, aber extrem theoretisch: es ging um Wellenbewegungen in rotierenden Kanälen und Seen. Nach einem kurzem Postdoc noch einmal in diesem Gebiet in London wurde mir das Thema etwas zu eng, ich wollte den Horizont öffnen. Da ergab sich die Gelegenheit, an die McGill University nach Montreal zu gehen, wo genau in dieser Zeit eine Klimaforschungsgruppe eröffnet wurde.

War Ihnen da schon klar, dass Sie sich diesem Forschungszweig widmen wollten?

Fasziniert hat mich die Klimaforschung von Anfang an, aber genau wie heute hangelte man sich auch damals von einem Postdoc zum nächsten und wusste nicht, ob man in der Forschung eine längerfristige Perspektive hat. Ich hatte deshalb an der ETH während des Doktorats das Gymnasiallehrerpatent in Physik gemacht und hatte also einen Plan B, den ich aber nie aktivieren musste. Dann lernte ich bei der ersten ProClim-Konferenz 1990 in Locarno einen prominenten Forscher aus den USA kennen, Wally Broecker. Wir kamen ins Gespräch und er fragte mich, ob ich zu ihm ans Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia University in der Nähe von New York kommen möchte. Das war damals weltweit der Nummer-Eins Ort für Paläo-Klimaforschung, also für die Rekonstruktion des Klimas früherer Zeiten – ein Superangebot. Und Broecker stellte zu jener Zeit die interessanten Hypothesen auf, dass sich die Ozeanströmung schnell verändern kann und dass dies der Grund für die abrupten Temperatursprünge in der Klimageschichte sei, die man in den grönländischen Eisbohrkernen gefunden hatte. Diese Veränderungen hat Broecker später als Dansgaard-Oeschger-Ereignisse bezeichnet.

Und, hat es funktioniert mit New York?

Ich war begeistert und dachte, ich hätte nun die nächste Stelle. Da meldete sich Wally Broecker nach ein paar Monaten wieder und erklärte, ich müsse zuerst einen Antrag für ein Forschungsprojekt zuhanden des US-Energieministeriums schreiben. Schliesslich wurde das Projekt bewilligt, und mein Salär war gesichert. Ich hätte nun vier Jahre in New York bleiben wollen, aber nach zwei Jahren kam das Telefon aus Bern …

Man hat ihnen nahegelegt, sich auf eine Professur zu bewerben?

Ja. Hans Oeschger hatte mir bereits ein Jahr zuvor das Inserat für seine Nachfolge geschickt und mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht. Doch ich hatte mich nicht gemeldet, da ich ja bloss ein junger Postdoc war und nicht im Traum daran dachte, mich auf eine Stelle zu melden, die damals, 1992, die allereinzige Professur in der Schweiz war, die sich mit Klimawandel befasste. Und zwar Klimawandel im rezenten Zeitraum, das heisst die vergangen 100'000 Jahre und die Zukunft.

Und da hat man Sie ein bisschen gestupst?

Die Findungskommission der Universität Bern stand nach der ersten Runde wieder auf Feld eins, da ihr Wunschkandidat abgesagt hatte. Man hörte sich dann in der Community nach interessanten Kandidaten um, und ich hatte das grosse Glück, dass mein Chef in Lamont, Wally Broecker, fand, ich könnte meine Forschung doch in Bern weiterführen und mich empfohlen hat …

… und dann wurden Sie mit 34 Jahren tatsächlich gewählt …

… ja, und als ich hier in Bern ankam, hatte ich Knieschlottern und fragte ich mich, ob das wohl gut ginge. Ich war auf einen Schlag verantwortlich für eine Abteilung des Physikalischen Instituts mit 28 Personen, mit zum Teil langjähriger Erfahrung, die internationale Forschung gemacht hatten. Und nun kommt da so ein Jungspund aus Amerika und übernimmt die Leitung. Das hat nur dank der fantastischen Kollegen funktioniert, mit denen ich hier zusammenarbeiten durfte.

Thomas Stocker 1992 bei der Probenahme an Bord der R/V Nathaniel B. Palmer im Weddell Meer (Antarktis). Bild: zvg

Als Sie begannen, sich für die Klimaforschung zu interessieren, wusste niemand, welche Bedeutung dieses Gebiet einmal erhalten sollte. Hat Ihre Karriere auch damit zu tun, dass Sie zur richtigen Zeit in den Startlöchern standen?

Es ist tatsächlich so, dass die Klimaforschung Ende 1980er Jahre richtig Fahrt aufnahm. Und die von Hans Oeschger aufgebaute Abteilung für Klima- und Umweltphysik an der Universität Bern war an vorderster Front dabei – auf der einen Seite mit dem Verständnis des Klimasystems durch die Analyse von Eisbohrkernen, anhand derer Hans Oeschger und sein Team beweisen konnten, dass der Anstieg der Treibhausgase seit der Industrialisierung durch den Menschen verursacht ist und die Konzentrationen während der Eiszeit nochmals wesentlich geringer waren. Und andererseits war 1988 das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) mit dem Auftrag gegründet worden, für den Erdgipfel von Rio 1992 einen ersten wissenschaftlichen Statusbericht über den bisherigen und möglichen zukünftigen Klimawandel zu verfassen und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Die Universität Bern war schon in diesem ersten Bericht führend dabei.

Und dann setzte auch das grosse Interesse von Politik und Öffentlichkeit ein. Sie sind ja gewissermassen zum Gesicht der Klimaforschung in der Schweiz geworden …

… diese Rolle ist mir zugeflogen. Die Anfragen kamen von selbst, und ich stand zur Verfügung. Nicht so wie heute, wo man stark in den sozialen Medien präsent sein muss, um auf sich aufmerksam zu machen.

Machte Ihnen die Rolle als Erklärer des Klimawandels in den Medien eigentlich Spass?

Ja. Ich machte zwar bestimmt nie eine Homestory in der «Schweizer Illustrierten», aber es hat mir grosse Befriedigung verschafft, im IPCC nicht nur robuste Aussagen im Konsens zu erarbeiten, sondern diese dann auch gegen aussen zu kommunizieren. Aufgabe der Wissenschaft ist es, nicht nur Erkenntnis zu erarbeiten, sondern sie auch zu teilen, insbesondere in einem so gesellschaftlich relevanten Thema.

Die Klimaforschung ist längst hochpolitisch geworden. Wie fest haben Sie sich da aus dem Fenster gelehnt?

Während meiner Zeit im IPCC habe ich mich überhaupt nicht aus dem Fenster gelehnt, da ich den Beurteilungsprozess nicht beeinflussen wollte.

In letzter Zeit aber schon. Mit Ihrer Kritik an der SVP etwa haben Sie nicht hinter den Berg gehalten. Da sind Sie sehr deutlich geworden.

Natürlich. Ich denke, mit meiner Erfahrung muss man das. Ich nehme kein Blatt vor den Mund, wenn es vor Abstimmungen so eklatante Beeinflussungen gibt. Versucht eine Partei manipulativ und mit Propaganda die öffentliche Meinung zu beeinflussen, spreche ich das an.

Nun werden Sie emeritiert, sind in der Öffentlichkeit also nicht mehr Vertreter der Universität Bern. Werden Sie da noch weniger ein Blatt vor den Mund nehmen?

Nein. Wichtig ist, dass sich meine Äusserungen nach wie vor auf wissenschaftlichen Fakten abstützen. Das war immer mein Anspruch: Die Dinge zwar pointiert und verständlich anzusprechen, aber auch jederzeit fundierte Informationen zu liefern.

Sie werden also nicht zum zweiten Jacques Dubochet, dem Chemienobelpreisträger der Uni Lausanne, der mit den Klimaaktivisten sympathisiert?

Ich finde super, was er macht. Ich stehe vielleicht nicht so im Vordergrund wie er, aber vor einigen Jahren habe ich mich beispielsweise mit der Klimajugend des Kantons Glarus sehr engagiert, was dann tatsächlich dazu führte, dass in einer Kampfwahl der Kandidat der grünen Partei in den Ständerat gewählt wurde und an der Landsgemeinde handfester Klimaschutz, nämlich das Verbot von Ölheizungen, beschlossen wurde.

Thomas Stocker erhält 1993 im Berner Rathaus den Schweizer Wissenschaftspreis Latsis. Im gleichen Jahr tritt er die Professur an der Universität Bern an. Bild: zvg

Was war eigentlich der grösste Erfolg in Ihrer wissenschaftlichen Karriere?

Am meisten zählt für mich, dass die Abteilung für Klima- und Umweltphysik heute wahnsinnig gut dasteht, und auf der Landkarte eine starke internationale Marke ist. Doch das ist nicht mein Verdienst, sondern dasjenige aller Mitarbeitenden, die in den vergangen 30 Jahren bei uns geforscht und sich mit grossem Engagement für Forschung und Lehre eingesetzt haben.

Lassen Sie mich etwas anders nach Ihren persönlichen Highlights fragen: Welches Ihrer über 260 Paper wurde am meisten zitiert?

Das sind wohl die Publikationen rund um die Rekonstruktion der CO2- und CH4- Konzentrationen während den vergangen 800'000 Jahren mit Hilfe von Eisbohrkernen, die wir in Rahmen des europäischen Projekts EPICA machen konnten. Dieser Weltrekord hat bis heute Bestand. Unser zweites erfolgreiches Gebiet ist die Modellierung des Klimasystems mit sogenannten Modellen reduzierter Komplexität. Mit diesen vereinfachten Klimamodellen, die zum Verständnis unserer Messungen an polaren Eisbohrkernen unumgänglich sind, können wir extrem effizient Simulationen durchführen und Hypothesen testen. Trotz der Einfachheit dieser Modelle können wir hier international nach wie vor mithalten.

Wenn Leute pensioniert werden, fragt man sie oft nach ihren Hobbies: Von Ihnen habe ich gehört, dass Sie Rennvelo fahren und Orchideen züchten. Stimmt das?

Orchideen gezüchtet habe ich nie. Aber ja, einheimische Orchideen interessierten mich schon immer, das ist ein Virus, den mir mein Biologielehrer im Gymnasium eingepflanzt hat. Ich habe dann über Jahre Literatur zu diesen Blumen gesammelt und auch in der Natur, auf Wanderungen nach Orchideen Ausschau gehalten. In der Schweiz gibt es über 40 einheimische Orchideenarten – allesamt gefährdet. Ich hatte dann auch mal eine Phase, in der ich alte botanische Illustrationen aus dem 18. Jahrhundert sammelte – das hat mich damals fasziniert, ist aber inzwischen wieder etwas abgeklungen. Irgendwie kann ich mich relativ gut für neue Dinge begeistern und gehe ihnen dann auf den Grund.

Und das Rennvelofahren?

Damit habe ich während der Pandemie angefangen. Auf dringendes Anraten meiner beiden Töchter habe ich mir glücklicherweise ganz zu Beginn ein Rennvelo gekauft, bevor es mit den Lieferschwierigkeiten losging. Seither bin ich in der Umgebung von Bern unterwegs, am letzten Samstag zum Beispiel mit einer meiner Töchter im Schwarzenburgerland. Wir haben 70 Kilometer und 1300 Höhenmeter zurückgelegt. Das war super.

Das Bern-Team mit Jakob Schwander und Remo Walther bei Eiskernbohrungen in der Antarktis 2019. Bild: Remo Walther

Neben all den Erfolgen haben Sie auch Niederlagen erlebt. 2015 wären Sie gerne zum Präsidenten des IPCC gewählt worden und sind unterlegen. Hat Sie das sehr geschmerzt?

Ja, das machte mir tatsächlich zu schaffen, aber nicht sehr lange. Und rückblickend muss ich sagen: diese Niederlage war das Beste, was mir passieren konnte. Ich habe in diesem globalen Wahlkampf gelernt, dass es oberhalb des Amts, das ich als Co-Chair der IPCC-Arbeitsgruppe «Physikalische Grundlagen» ausüben konnte und das sehr wissenschaftlich geprägt war, äusserst politisch wird. Da ist man ganz anderen Kraftfeldern ausgesetzt.

Dass es bei diesem Amt nicht mehr nur um Wissenschaft geht, war Ihnen wohl ja schon bewusst, als Sie sich zur Wahl stellten …

Ja, das wusste ich, dass es aber in dieser Sphäre überhaupt nicht mehr um Wissenschaft geht, war mir nicht klar. Das war wohl etwas naiv.

Sie waren jahrzehntelang ein Aushängeschild der Wissenschaft. Hat man nie versucht, sie abzuwerben? Stand nie ein Headhunter in Ihrem Büro und machte ein unwiderstehliches Angebot?

Es gab mehrere Anfragen. Eine davon war, eine Professur an der University of Cambridge zu übernehmen. Spontan sagt man, Supersache, das muss man genauer prüfen. Es ging darum, ein interdisziplinäres Klimaforschungszentrum aufzubauen, so wie wir das an der Universität Bern mit dem Oeschger-Zentrum haben. Als ich dann wissen wollte, welches Budget für diesen Aufbau zur Verfügung stehe, gab man mir zur Antwort: 10'000 Pfund pro Jahr. Da musste ich laut loslachen und sagte, diese Summe würde ich in meiner Abteilung dafür einsetzen, zwei Semester lang ein Seminar zu organisieren. Das war dann das Ende der Anfrage.

Sie haben zwei Töchter. Haben Sie ihnen geraten, eine wissenschaftliche Karriere anzustreben?

Nein, was ich Anna und Francesca mitgegeben habe, ist die Begeisterung für die Natur und die Naturwissenschaften. Die ältere hat an der Uni Bern Physik studiert und die jüngere ebenfalls hier Biochemie. Nun arbeitet die eine in der Bundesverwaltung und die andere in der Pharmaindustrie, und beide sind glücklich mit ihrem Weg.

Was würden denn Sie heute studieren, wenn Sie noch einmal 20jährig wären?

Wieder dasselbe, keine Frage. Umweltphysik.