Tauchen und Sägen in der Knochenbucht

24. September 2019

Die ersten Bauern Europas lebten in Pfahlbausiedlungen auf dem Balkan. Wie haben sie sich an neue Klimabedingungen angepasst und wie haben sie ihre Umwelt beeinflusst? Dies untersucht ein von Berner Forschenden initiiertes interdisziplinäres EU-Grossprojekt. Zwei Tage unterwegs mit den Forschenden.

(Bild: Corinne Stäheli)

28. Juli, 22 Uhr

Es ist dunkel, als wir im Camp der Berner Forschenden eintreffen. Kein Zeltlager in der Wildnis, sondern ein Wohnhaus mit Vorgarten in Peštani, einem verschlafenen Ferienort am Ohridsee in Nordmazedonien. Eine lange Tafel, beleuchtet von flackernden Kerzen. Der grosse Topf mit Pasta steht
auf einem auffälligen Untersetzer – schwarz und hart wie Ebenholz. Es ist der Abschnitt eines 6000 Jahre alten Pfahls. Willkommen in der Welt der Unterwasserarchäologie! Willkommen beim europäischen Exzellenz-Projekt EXPLO (siehe Kasten)!

Beim Nachtessen sitzen zehn Archäologinnen und Taucher beisammen, die meisten von ihnen sind beides zugleich. Rund vierzig Personen geben sich in den zwei Monaten, über die sich die Feldarbeiten im ersten Projektjahr hinziehen, im Grabungshaus die Klinke in die Hand. Sie kommen aus einem halben Dutzend Länder.

Bei einem Glas Rotwein aus dem «Market»-Laden über die Strasse schildert uns Albert Hafner, Professor für Prähistorische Archäologie, die Grundzüge des Vorhabens, das er zusammen mit dem Paläoökologen Willy Tinner, auch er Professor an der Universität Bern, initiiert hat. Beide sind Mitglieder des OCCR. «Das Rückgrat des Projekts», sagt Hafner, «ist die hochpräzise Datierung von Pfählen, um die Fundstellen in eine Chronologie zu bringen.» Am Ohridsee hat das Team bereits von rund 800 Pfählen Proben entnommen – den Resten von Siedlungen aus der Bronzezeit und dem Neolithikum. Auf Grundlage dieser zeitlichen Einordung will EXPLO zeigen, wie sich Klima, Umwelt und Landwirtschaft in den vergangenen 10 000 Jahren entwickelt und gegenseitig beeinflusst haben. Dazu werden archäologische Fundstellen, Bohrkerne und Sedimente in Seen in Griechenland, Nordmazedonien und Albanien untersucht. Das auf fünf Jahre angelegte Projekt soll Fragen beantworten wie: Wann genau hat die bäuerliche Lebensweise am süd.stlichen Rand Europas angefangen? Warum ausgerechnet hier und genau zu diesem Zeitpunkt? Und schliesslich sollen sich aus dem Wissen über die Vergangenheit auch Lehren für die Zukunft ziehen lassen. Zum Beispiel aus den bäuerlichen Anpassungsstrategien an vergangene Klimaveränderungen.

(Bild: Marco Hostettler)

29. Juli, 9 Uhr

Der letzte Tauchgang der Saison steht bevor. Drei Taucher und ihre Helfer verladen Material. Ein schwarzes Zodiac- Boot mit Berner Zulassungsnummer füllt sich mit Dingen wie Messbändern, Maurerkellen, einer Fuchsschwanzsäge und, ja, Cakeformen in verschiedenen Grössen. Alles praktisch verpackt in rote Einkaufskörbchen. Die Grabungsstätte, zu der sich das Team aufmacht, liegt keine 50 Meter vom Ufer entfernt in einer «Bay of Bones» genannten Bucht – warum sie diesen Namen trägt, ist nicht so klar. Viel eher müsste sie «Bay of Pots» heissen, denn der Grund ist mit einer dicken Schicht bronzezeitlicher Keramik bedeckt. Gesichert ist hingegen, dass es lokale Taucher waren, die entdeckt hatten, dass hier Pfähle aus dem Seeboden ragen.

Mittlerweile steht in der malerischen und vor Stürmen gut geschützten Bucht eine Rekonstruktion einer Pfahlbausiedlung. Am Ufer betreibt ein Tauchzentrum seine Basis. Von hier aus sind in den vergangenen Wochen die EXPLO-Teams zu ihrer Arbeit unter Wasser aufgebrochen. Ihre Aufgabe: Ein Feld von zehn auf zehn Metern von Ablagerungen zu befreien, nach Pfählen abzusuchen, deren Lage zu vermessen und schliesslich von jedem Holz eine Probe zu nehmen. Das tönt relativ einfach, doch in Tat und Wahrheit brauchte es dazu minutiöse Organisation, den Einsatz von Hightech-Equipment und harte körperliche Arbeit auf vier Metern Tiefe. Und immer wieder kam es unter Wasser zu Überraschungen, die die Archäologen an ihre Grenzen brachten.

(Bild: Marco Hostettler)

So hatten sie zum Beispiel nicht damit gerechnet, wie dicht die Pfähle stehen. Bis zu 14 zugespitzte Eichen-, Nadelholz- und Wacholderstämme pro Quadratmeter wurden hier während der Jungstein- und Bronzezeit in den Boden gerammt. Die vielen Pfähle waren nicht etwa nötig, um Gebäude zu tragen. Die hohe Dichte erklärt sich dadurch, dass immer wieder neu gebaut wurde. Nach ersten Auswertungen gehen die Berner Forschenden davon aus, dass in der Knochenbucht im Verlauf der Jahrtausende über ein Dutzend Siedlungen errichtet wurden.

Diese Fülle von Material ist ein Glücksfall – weniger angetan waren die Archäologen hingegen vom Aufwand, der das Beproben all der Pfähle bedeutete. Mit Wasser vollgesogen und unter Ausschluss von Sauerstoff in Sedimentschichten gelagert, sind sie nicht nur perfekt erhalten geblieben, sondern auch steinhart. Vor allem mit dem Wacholderholz hatten die Taucherinnen und Taucher ihre liebe Mühe. Ganze anderthalb Tage nahm das Zertrennen eines solchen Stamms in Anspruch. Um mittels Handsäge die Probe eines Pfahls zu gewinnen, gingen die Füllungen von fünf Atemluftflaschen drauf – und sehr viel Muskelkraft. Für die nächste Grabungssaison, so ist klar geworden, braucht es eine Unterwasserkettensäge.

(Bild: Marco Hostettler)

29. Juli, 10.30 Uhr

Das Schlauchboot schaukelt an einer roten Boje, die Unterwasserarchäologen sind an der Arbeit, und nun wird es Zeit für die Reporter, mit Maske und Schnorchel ins glasklare Wasser zu steigen. Wir schwimmen zu einer Grube, in der ein Taucher in rotem Anzug ein Sedimentprofil erstellt. Beim kurzen Abtauchen auf den Seegrund sehen wir, wie das vor sich geht: Den genauen Ort der Probeentnahme festlegen und vermessen. Eine passende Cakeform wählen. Die Grubenwand von Steinen und Keramikscherben säubern, damit sich die Form möglichst gut ins Sediment einsetzen lässt. Und dann ganz vorsichtig drücken. Anschliessend mit der gefüllten Form auftauchen und sie der Schlauchbootcrew übergeben, die die Probe verpackt.

29. Juli, 12.30 Uhr

Mittagspause. Bei Brot, Tomaten, Ajvar und Käse sprechen wir über Parallelen zwischen der Grabungsstätte vor unseren Augen und den Fundstätten in der Schweiz.

Absolut vergleichbar seien sie, erfahren wir – bloss hier wahrscheinlich noch ein gutes Stück älter. Im Ohridsee leisten die Archäologen Pionierarbeit. In der Schweiz hingegen wurde der erste Pfahlbau bereits 1854 entdeckt. Ab den 1960er-Jahren wurde dann – dank der Unterstützung von Unterwasserarchäologen – intensiv zum Thema geforscht. Die ältesten Pfahlbauersiedlungen der Schweiz sind 4300 Jahre vor Christi Geburt entstanden, die letzten 800 v. Chr. Dazwischen verlieren sich die Zeugnisse der Besiedlung wegen der angestiegenen Seestände mehrmals. Es ist nicht nur bekannt, wo und wann die Pfahlbauer lebten, sondern auch, welche Getreide sie anbauten (etwa Emmer, Gerste und Einkorn) und welche Haustiere sie hielten (etwa Rinder, Schweine und Hunde). Und gesichertes Wissen gibt es auch darüber, wie unsere Vorfahren Materialien verarbeiteten und wie sie diese über etablierte Handelskanäle – etwa für Silex – beschafften. Ein Rätsel hingegen bleiben gesellschaftliche Fragen: Wie zum Beispiel sah die soziale Differenzierung aus? Und wie haben diese Menschen ihre Toten bestattet?

Die Pfahlbauten in der Knochenbucht, das zeigen erste EXPLO-Resultate, sind übrigens viel älter als angenommen. Bis anhin ging man davon aus, dass sie zwischen 700 und 1200 vor Christus entstanden waren. Die Berner Forscher können drei Siedlungsphasen belegen: 1400, 1800 und 4400 vor Christus. Doch sie rechnen damit, dass sich Siedlungen nachweisen lassen, die bereits zwischen 5000 bis 6000 Jahre vor Christi Geburt entstanden sind.

(Bild: Johannes Reich)

29. Juli, 17 Uhr

Das EXPLO-Team betreibt in seinem möbliert gemieteten Haus ein mobiles Labor für Dendrochronologie. Im Salon stehen Seite an Seite mit Geschirrvitrine und Hausbar Baumschnitte und Mikroskope. An den Wänden Pläne der Pfahlbauten von Sutz-Lattrigen im Bielersee, wo Albert Hafner vor seiner Zeit an der Universität Bern die Aussenstelle für Unterwasserarchäologie leitete – und das Unesco-Welterbe «Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen» initiierte, das 111 Fundstellen in 6 Staaten umfasst.

Ebenfalls an die Wand gepinnt ist die sogenannte Süddeutsch-Schweizerische Eichen-Standardkurve, ein Jahrringkalender, der lückenlos bis ins 9. Jahrtausend v. Chr. zurückreicht. Referenzkurven wie diese sind unerlässlich, um einen Baumschnitt präzise zu datieren. Mit ihrer Hilfe lässt sich das unter dem Mikroskop gemessene Wachstumsmuster eines Baums in eine Chronologie einpassen und so sein absolutes Alter bestimmen. In jahrzehntelanger wissenschaftlicher Grundlagenarbeit wurden Standardkurven aus Seeufersiedlungen für den nordalpinen Raum erstellt. Für den Südbalkan hingegen fehlen sie komplett. «Deshalb», sagt Albert Hafner, «ist die Einführung der Dendrochronologie in dieser Region einer der Schwerpunkte von EXPLO.» Für die angestrebte Referenzkurve werden aber nicht nur möglichst viele und möglichst unterschiedlich alte Baumschnitte benötigt. Gefragt sind auch statistische Modelle sowie eine Vielzahl von C14-Altersbestimmungen, wie sie das Oeschger-Zentrum in seinem Radiokarbonlabor durchführt.

EXPLO wird keine durchgehende, über10 000 Jahre reichende Chronologie erstellen können, aber die Kombination von modernen C14-Daten und Dendrodaten liefert ein höchst brauchbares Arbeitsinstrument. «Wir wollen beim Alter der prähistorischen Seeufersiedlungen in der Region mit einer klaren Chronologie wissenschaftliche Fakten schaffen», erklärt Albert Hafner. prähistorischen Nahrungsresten in Sedimenten der diversen archäologischen Fundstellen will sie klären, was die Menschen hier einst angebaut und gegessen haben. Ihr Ziel: eine bioarchäologische Rekonstruktion der frühen europäischen Landwirtschaft. Willy Tinner wiederum will analysieren, wie die ersten Bauern ihre Umwelt beeinflusst haben – und umgekehrt. Die Paläoökologen können insbesondere abklären, ob die Einführung der Landwirtschaft ein abrupter oder ein gradueller Prozess war. Die Dendrochronologen ihrerseits werden nachweisen, wann genau die ersten Siedlungen an den Seen im südwestlichen Balkan errichtet wurden – und wie lange sie besiedelt waren. So wird sich schliesslich zeigen lassen, wie schnell den ersten europäischen Bauern die Anpassung ans neue Klima gelang.

(Bild: Marco Hofstettler)

30. Juli, 16 Uhr

Der schwarze und der weisse Kleinbus mit Uni-Bern-Logo vor dem Grabungshaus sind gepackt. Alle vakuumierten Holzproben haben Platz gefunden, und auch die Ausrüstung ist glücklich verstaut. Nun hat die Archäologin Ariane Ballmer, die als EXPLO Koordinatorin als eines der wenigen Teammitglieder den ganzen Sommer vor Ort verbracht hat, Zeit für ein Gespräch über das grosse Thema des Projekts: die Ausbreitung der Landwirtschaft nach Europa.

Frau Ballmer, was weiss man heute über das Vordringen der Landwirtschaft aus dem Westen Asiens nach Europa?

Ariane Ballmer: Klar ist, dass frühe Viehzüchter und Ackerbauern aus Anatolien ab dem 7. Jahrtausend vor Christus zunächst in den ägäischen Raum, insbesondere Nordgriechenland, und danach via Süditalien und den Balkan nach Mitteleuropa gelangten.

Gab es tatsächlich Migrationsbewegungen von bäuerlich lebenden Gemeinschaften, oder verbreiteten sich die neuen Kulturtechniken nicht einfach dadurch, dass sie von lokalen Wildbeutern nach Kontakten mit Bauern übernommen wurden?

Die These der Adaption durch reinen Wissenstransfer gilt als widerlegt, was die Einführung der Landwirtschaft betrifft, denn Haustiere und Getreidesorten kamen vermutlich mit Einwanderern aus Westasien nach Europa. Es gibt aber auch Hinweise, dass europäische Sammler- und Jägergruppen dazu beigetragen haben, diese Innovationen den lokalen Bedingungen anzupassen.

(Bild: Johannes Reich)

Die neuen europäischen Bauerngesellschaften lebten unter anderen klimatischen Bedingungen als jene in Westasien.

Ja, sie mussten sich an eine Reihe neuer Bedingungen anpassen, nicht nur an klimatische. Diese Herausforderung dürfte mit Erfolgen und Niederlagen einhergegangen sein und über viele Generationen zu neuen Strategien und Innovationen geführt haben. So wurden zum Beispiel Gersten und Weizen aus dem trockenen, subtropischen Klima des Nahen Ostens erfolgreich auf die kühl-feuchten und bewaldeten Bedingungen in Europa eingestellt.

An diesem Punkt kommt bei EXPLO die interdisziplinäre Zusammenarbeit ins Spiel: Die am Projekt beteiligte Oxford-Professorin Amy Bogaard ist auf frühe Landwirtschaftsökologie spezialisiert. Anhand von prähistorischen Nahrungsresten in Sedimenten der diversen archäologischen Fundstellen will sie klären, was die Menschen hier einst angebaut und gegessen haben. Ihr Ziel: eine bioarchäologische Rekonstruktion der frühen europäischen Landwirtschaft. Willy Tinner wiederum will analysieren, wie die ersten Bauern ihre Umwelt beeinflusst haben – und umgekehrt. Die Paläoökologen können insbesondere abklären, ob die Einführung der Landwirtschaft ein abrupter oder ein gradueller Prozess war. Die Dendrochronologen ihrerseits werden nachweisen, wann genau die ersten Siedlungen an den Seen im südwestlichen Balkan errichtet wurden – und wie lange sie besiedelt waren. So wird sich schliesslich zeigen lassen, wie schnell den ersten europäischen Bauern die Anpassung ans neue Klima gelang. 

 

(Bild: Johannes Reich)

30. Juli, 21 Uhr

Nach dem Abendessen holt Johannes Reich, der als Forschungstaucher die Taucheinsätze leitet, seinen Laptop hervor. Der künftige Doktorand, der im Rahmen von EXPLO seine Dissertation schreiben wird, zeigt uns Visualisierungen, die aus Hunderten von Unterwasserfotos entstanden sind. Mit einer Unterwasserkamera hat sein Team das freigelegte Grabungsfeld lückenlos dokumentiert. An den Abenden dann hat Reich die Aufnahmen in ein 3D-Oberflächenmodell eingegeben und mit den präzis vermessenen Standorten der Pfähle verknüpft. Nun baut sich vor unseren Augen ein wahrer Wald von aus dem Seeboden herausragenden Stämmen auf.

Zurück in Bern wird diese Modellierung mit Altersbestimmung der unterschiedlichen Generationen von Pfählen verknüpft, und alle gleich alten Bäumen werden farblich gekennzeichnet. Dann sollten sich im wilden Muster der Pfähle Grundrisse von Häusern abzeichnen – so wie auf den Plänen der Pfahlbauersiedlung vom Bielersee. «Ich erwarte, dass sich aus dem Grabungsfeld, das wir in dieser Saison beprobt haben, die ersten Hausgrundrisse aus Seeufersiedlungen des Balkans rekonstruieren lassen», meint Johannes Reich und fügt hinzu, «das allein wäre ein Riesenerfolg.»

Unterwasserarchäologie, so viel steht fest, ist harte Arbeit. Knochenarbeit. Auch hier in der «Bay of Bones», die ihren makaberen Namen völlig zu Unrecht trägt.

(Quelle: UniPress, Universität Bern)

Europäisches Exzellenzprojekt

EXPLO (kurz für Exploring the dynamics and causes of prehistoric land use change in the cradle of European farming) wird von der EU mit 6,4 Millionen Euro unter- stützt und ist eines der zwei Dutzend Projekten, dem 2018 ein sogenannter «ERC Synergy Grant» für interdisziplinäre Zusam- menarbeit zugesprochen wurde – und eines der ganz wenigen geisteswissen- schaftlichen. Die Synergy Grants stellen die höchste Stufe der Exzellenzförderung der Europäischen Kommission dar und sind unter Forschenden heiss begehrt. Weniger als 5 Prozent der eingereichten Anträge werden bewilligt.