Wie gehen Sozialwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler und Naturwissenschaftler mit Klima- und Umwelthistorikern um?
Generelle Aussagen sind nicht möglich. Wesentlich scheint mir, dass Klima- und Umwelthistoriker nicht als blosse Datenlieferanten missbraucht, sondern als Partner auf Augenhöhe anerkannt werden. Dann kommt es darauf an, ob Wissenschaftler und Historiker bereit sind, sich in Nachbargebiete einzuarbeiten, um ein breiteres Verständnis ihres Gegenstandes zu gewinnen. Nach meiner Erfahrung ist dies am ehesten bei Geographen der Fall, weil dieselben von Haus aus fächerübergreifend denken (sollten). „Harte“ Naturwissenschaften sind dialogbereit, sofern sie überzeugt sind, dass sie von einer Zusammenarbeit mit Historikern neue Erkenntnisse gewinnen können. So setzte sich die Forschungsgruppe um Sonia Seneviratne vom ETH Institut für Klima und Atmosphäre beispielsweise in Form von Modellen mit dem extremen Hitze- und Trockenjahr 1540 auseinander, obschon dazu keine „harten“ Daten vorliegen (Orth et al., 2016). Innerhalb der Hydrologie ist die Historische Hydrologie heute als Teildisziplin anerkannt, weil sich (extremer) Niederschlag, Überschwemmungen und Trockenperioden in der vorinstrumentellen Periode als kurzfristiges und kleinräumiges Element mit narrativen und proto-statistischen Aussagen am ehesten fassen lassen.
Bei Wirtschaftshistorikern sind zwei Gruppen zu unterscheiden. Mit jenen, die sich hinter Dogmen, Statistik und mathematischen Formeln verschanzen, ist ein Dialog fruchtlos. Es gilt zu begreifen, dass Zahlen in historischen Kontexten kritisch hinterfragt werden müssen und dass ökonomische Modelle nicht unbesehen auf die Vergangenheit übertragen werden dürfen. Jene, die in dieser Hinsicht offen sind, können unseren Blick auf die Vergangenheit mit ihren Erkenntnissen bereichern.
Du erwähntest das Jahr 1540, das Du als wirklich außergewöhnliches klimatisches Jahr, als „schwarzen Schwan“, herausgearbeitet hast. Magst Du etwas mehr sagen zu diesem Jahr?
Ein "schwarzer Schwan" (Nassim Taleb) ist ein Ausreißer außerhalb des Bereichs der normalen Erwartungen, der eine ungeheure Wirkung hat. Klimatisch gesehen ist es ein Ereignis, dessen Eintreten auf Grund seiner Seltenheit für unwahrscheinlich gehalten wird. Ein Beispiel ist das Jahr 1540. Damals litt Europa vom Atlantik bis Polen und von der Toscana bis zur deutschen Nordgrenze unter einer elfmonatigen Hitze- und Dürreperiode, welche Flüsse zu Rinnsalen verkümmern und Wälder und Siedlungen in Flammen aufgehen liess. Die Folgen eines solchen Ereignisses wären heute vor allem auf Grund des Wassermangels und seiner Folgewirkungen für die Energieversorgung (Kühlwasser) und die Gesundheit gravierend (Pfister, 2018). Da mit der Zunahme der Mittelwerte die Extremwerte häufiger und extremer werden, wie das laufende Jahrzehnt zeigt, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass wir in absehbarer Zeit mit einem Schwarzen Schwan konfrontiert werden. Zu den Aufgaben einer kritischen Klimagesichte gehört es, die Behörden vor solchen Ereignissen zu warnen, damit sich diese rechtzeitig auf eine solche Situation vorbereiten können. Nicht zuletzt erlaubte der Blick auf die Witterungsverhältnisse in den letzten 500 Jahren, die Grössenordnung des Umbruchs zum Global Warming schon früh einzuschätzen (Pfister 1999).
Ist Klimawissen ein Nutz- und Machtmittel – eine Möglichkeit eine Diskursherrschaft zu erringen?
Die Kirche beanspruchte die Diskursherrschaft zum Thema Wetter und Klima seit dem Frühen Mittelalter. Mit dem Aufkommen von Messinstrumenten und mathematisch-statistischen Methoden verlor sie dieselbe vom 17. Jahrhundert an die aufkommende Naturwissenschaft. Mit der klimatischen Wende in den 1990er Jahren flammte ein Disput zwischen der Mainstream-Klimawissenschaft und den so genannten Skeptikern auf, der heute auch auf weltpolitischer Ebene geführt wird.
Wissenschaftler im öffentlichen Raum – Norm und Praxis?
Neben der Wissenschaft sind hier die Medien und die Politik als Akteure zu nennen (Weingart und Pansegrau 2002). Alle verfolgen sie unterschiedliche Interessen: Wissenschaftler fürchten ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Aus der Debatte um das Waldsterben haben sie gelernt, nicht allzu voreilige Schlüsse zu ziehen. Politiker wollen keine Fehlentscheidungen treffen, die zu einem Verlust an Wählerstimmen führen könnten. Medienleute müssen in einem hart umkämpften Markt Aufmerksamkeit für ihre Erzeugnisse gewinnen
Die Öffentlichkeit leiht der Wissenschaft ihr Ohr vor allem anlässlich von Extremen wie heiss-trockenen Sommern, schneearmen Wintern und so genannten Naturkatastrophen wie Felsstürzen und schweren Überschwemmungen. Auf solche kurze Gunstphasen hat sich die Wissenschaft vorzubereiten. Nur wenn Extreme und Katastrophen in kürzeren Abständen auftreten, kann sich die Wahrnehmung einer drohenden Klimaveränderung verdichten und einen entsprechenden politischen Handlungsdruck auslösen.
Mit den sozialen Medien ist eine neue, einflussreiche, aber zeitfressende Dimension der öffentlichen Meinung entstanden. Ob und wie sich die Wissenschaft hier einbringen kann, ohne ihre eigentliche Aufgabe, die Bereitstellung neuer Erkenntnisse zu vernachlässigen, bleibt offen.
Wissenschaft und ihre Rolle in der Politik – Ideale und Praxis?
Politikberatung ist nicht das Geschäft der Klima-Wissenschaft. Über allfällige Massnahmen haben die politischen Institutionen, in der Schweiz vor allem die Stimmberechtigten, zu entscheiden. Vielmehr hat Wissenschaft die Aufgabe Prognosen zu formulieren und die Politik sachlich auf die zu erwartenden Risiken hinzuweisen. Ein Blick in die Klimavergangenheit kann dabei erhebliche Aufschlüsse liefern. Er hat für die Einschätzung der Gegenwart argumentativ seit jeher eine zentrale Rolle gespielt. Daten aus der Vergangenheit zeigen heute, wie eine künftige wärmere Welt aussehen wird, und zwar – dies ist entscheidend – nicht bezüglich der Mittelwerte, sondern der Extremwerte. Daneben hat die Klimaforschung immer wieder irrige Meinungen in Bezug auf die Klima-Vergangenheit („das hat es schon früher gegeben“) und auf die Ursachen des raschen Klimawandels richtig zu stellen. Die Kommunikation läuft vorzugsweise über die Medien (Presse, Radio- und TV Auftritte). Allerdings ist der Klimawandel nur einer von zahlreichen dringlichen Problembereichen, mit denen sich die Politik auseinanderzusetzen hat.
Pfister als Akteur in Bern, in der Schweiz und im internationalen Raum.
Nach der Publikation der „Klimageschichte der Schweiz“ wurde ich zu zahlreichen Vorträgen eingeladen und stand den Medien (Presse, Radio, Fernsehen) aus Anlass von Extremereignisse immer wieder Rede und Antwort.
Dabei beschränkte und beschränkt sich meine Medienpräsenz fast ausschliesslich auf den deutschsprachigen Raum. Im frankophonen Raum, selbst in der Westschweiz, besteht keinerlei Interesse, selbst wenn Interviews in französischer Sprache angeboten werden.
Als Folge der Medienpräsenz habe ich lange Zeit gegen das Etikett „Klimahistoriker“ angekämpft, das in der Öffentlichkeit eine griffige Identifikation erlaubte, mich jedoch bei meinen Kollegen zum Ein-Themen Historiker und zum Aussenseiter stempelte.
Ich möchte in Erinnerung rufen, dass ich mich neben der Klimageschichte in Forschungsfelder wie Bevölkerungs-, Agrar-, Forst-, Ernährungs- und Wirtschaftsgeschichte vertieft habe. In den frühen 1990er Jahren, als ich um eine Stelle zu kämpfen hatte, entstand eine Bevölkerungsgeschichte der frühen Neuzeit (1994), ein Werk über „Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt im Kanton Bern 1700-1914)“ (1995) und eine Abhandlung über das 1950er Syndrom“ (1995). Allein auf Grund dieser breiten thematischen Basis schaffte ich 1996 den Sprung auf ein Ordinariat.
Wir kommen gleich auf das Thema des „1950er Syndroms“. Was ist das, und wie hast Du Dich in dieser Sache engagiert?
Meine These einer Gliederung der (Umwelt)geschichte in drei gesellschaftliche Fundamentalperioden -Agrargesellschaften, Industriegesellschaft und Konsumgesellschaft auf Grund ihrer Energiebasis (Biomasse, Kohle, Öl und Gas) (Pfister, 1995) hat Aufsehen erregt, weil sie einen Nerv der Zeit traf. In der Umweltgeschichte ist die These weitgehend unbestritten. Der entsprechende Sammelband erlebte 1996 eine zweite Auflage. Das Thema hat einen Eintrag in Wikipedia gefunden und zählt mittlerweile 38‘000 Einträge im Internet.
Auf fundamentale Kritik stiess die These dagegen in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Im Sammelband selber (1995) wurde vor allem argumentiert, ein einziger Faktor könne dem starken Wirtschaftswachstum in der Nachkriegszeit nicht gerecht werden. Diese Argumentation greift jedoch in dem Sinne zu kurz, als die These in dieser Form gar nie in den Raum gestellt wurde. Vielmehr ging es stets um die energetischen Grundlagen und die ökologischen Konsequenzen der Entwicklung. Von den relativen Preisen von Arbeit und Energie hängt es ab, wie Energie genutzt wird. Mit Kohle wurde sparsam umgegangen, weil sie auf Grund der arbeitsintensiven Förderung ihren Preis hatte, ganz zu schweigen vom Energieträger Biomasse in der Agrargesellschaft. Als jedoch anspruchslosere Energieträger wie Erdöl oder Erdgas fast zum Nulltarif verfügbar wurden, lohnte es sich nicht mehr, sparsam mit Energie umzugehen und alternative Energieformen wie die Solarenergie weiter zu entwickeln. Auf der Basis billigen Erdöls entstanden verschwenderische Lebensformen, Konsummuster und Berge umweltschädigender Plastik-Abfälle. Anzunehmen ist, dass ein namhaftes Wirtschaftswachstum in der Nachkriegszeit auch ohne Billigenergie möglich gewesen wäre, nur in einer etwas weniger verschwenderischen Form. In jedem Falle hätte uns eine solche Entwicklung mehr kostbare Zeit zur Lösung des Klimaproblems gelassen.
Aus diesen Gründen betrachte ich das 1950er Syndrom oder die Grosse Akzeleration, wie das Phänomen auch genannt wird, weiterhin als die fundamentale Wende in der Umwelt- und Klimageschichte. Nicht der Übergang zur Industriellen Revolution im frühen 19. Jahrhundert hat uns das Klimaproblem in seiner heutigen Dringlichkeit beschert. Vielmehr ist es die gewaltige Schwemme an billiger fossiler Energie, die den Ausstoss an Treibhausgasen gegenüber der Vorkriegsperiode um das 4.5fache ansteigen liess. Hätte sich der langsame Anstieg der Treibhausgase in der Periode der sparsamen Industriegesellschaft nach 1950 weiter fortgesetzt, lässt sich durch simple Extrapolation berechnen, dass das heutige Niveau an Treibhausgasen erst im Jahre 2212 erreicht worden wäre (Pfister, 2010).
Christian, nachdem Du nun emeritiert bist – was für einen Rat hast Du an Kollegen, die demnächst in den Ruhestand gehen? Ebenso: was rätst Du einer/m 30jährige/n, die nach der Promotion vor der Wahl steht, in der Wissenschaft zu bleiben oder auch nicht?
Wer von seinem Fachgebiet fasziniert ist, sollte sich weiterhin dort engagieren, auch wenn er/sie von der Öffentlichkeit nicht mehr unterstützt wird und in manchen Gremien nicht mehr richtig „dabei“ ist. Wer zudem die Chance hat, Grosskinder zu betreuen oder in Freiwilligenarbeit aufzugehen, sollte diese Alternativen als Abwechslung und Quelle der Freude nutzen.
Einer/m Dreissigjährigen nach der Promotion möchte ich den Rat geben, sich zusätzlich zur Klimageschichte möglichst breit in Nachbargebiete einzuarbeiten und rechtzeitig nach Alternativen ausserhalb der Universität Ausschau zu halten. Klimageschichte allein ist für Historiker heute noch ein Karrierekiller.