Solidarität führt zu Kartoffelbergen
Bloss: Die Massen an Lebensmitteln und Kleidungsstücken stellten die Behörden vor ungeahnte logistische Probleme. Kartoffelsäcke etwa waren bald Mangelware. Und überhaupt mochte sich niemand mehr so richtig an den Kartoffelbergen freuen. Die vom Hochwasser geschädigten Kantone baten, keine Kartoffeln mehr übernehmen zu müssen. «Gerade die Naturalien entsprachen nicht den Bedürfnissen der Betroffenen, die sich vielmehr um ihre längerfristige Existenzsicherung sorgten», schreibt die Berner Historikerin Stephanie Summermatter. Wie 1868 seien auch heute nach Katastrophen die lokale Infrastruktur und die Verwaltung angesichts der Hilfsangebote oft überfordert, so Summermatter: Noch immer werde den Sammelaktionen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Verteilsystemen.
Stephanie Summermatter ist eine von zwei Dutzend Autorinnen und Autoren der Publikation «1868 – das Hochwasser, das die Schweiz veränderte. Ursachen, Folgen und Lehren für die Zukunft». Die für Nichtfachleute geschriebene Broschüre ist das Resultat einer gemeinsamen Anstrengung diverser Forschungsgruppen des Oeschger-Zentrums (OCCR). Sie zeigt in 19 Beiträgen, wie Hochwasser entstehen, warum die Katastrophe von 1868 bis heute nachwirkt und was sich daraus für die Zukunft lernen lässt.
Extreme Regenmengen in den Bergen
Zurück in den Herbst 1868. Der September war in der Schweiz bereits sehr regenreichen gewesen, als es innerhalb einer Woche zu zwei extremen Regenphasen kam. Von den ersten Starkniederschlägen am 27. und 28. September waren vor allem die Kantone Tessin, Graubünden und St. Gallen betroffen. Die zweite Phase vom 1. bis 5. Oktober schädigte das Tessin, das Wallis und Uri. Auf dem San-Bernardino-Pass fielen innerhalb von acht Tagen 1’118 Millimeter Regen – für die Schweiz ein rekordverdächtiger Wert. Auf beiden Seiten des Alpenkamms führte der Dauerregen zu Überschwemmungen. Der Lago Maggiore erreichte am 4. Oktober 1868 den höchsten je gemessenen Stand. Die Schäden waren nicht nur im Tessin gewaltig, insgesamt kamen in der ganzen Schweiz 51 Menschen in den Fluten ums Leben.