Die Auswirkungen der Katastrophe sind gut dokumentiert, doch die atmosphärischen Vorgänge die dazu geführt haben, liessen sich bis heute nicht detailliert und quantitativ rekonstruieren. Über das Wetter vom Dezember 1916 waren bisher vor allem qualitative Beschreibungen aus Tagebüchern oder Memoiren vorhanden. Zusätzlich lagen einige Messungen von Stationen der nationalen Wetterdienste vor. In den letzten Jahren aber wurden neue numerische Techniken entwickelt, die es ermöglichen, nicht nur das Klima, sondern auch das Wetter zu rekonstruieren.
Sogenannte Reanalysen, welche Wetterbeobachtungen und numerische Wettervorhersagemodelle kombinieren, gehören in den Klimawissenschaften heute zu den Standarddatensätzen. Bis vor kurzem waren diese Daten aber auf die letzten 30 – 50 Jahre beschränkt, für welche genügend Wetterballondaten vorhanden waren. Neue Entwicklungen ermöglichen nun, bereits mit wenigen Beobachtungen das Wetter zu rekonstruieren. Verschiedene globale Datenprodukte reproduzieren heute die meteorologische Situation vom Dezember 1916. Allerdings ist deren Auflösung zu schlecht, um ein regionales Ereignis in der komplexen Topographie der Alpen zu analysieren. Eine Lösung für dieses Problem stellt das dynamische „Downscaling“ dar. Auf dieselbe Weise werden in der Wettervorhersage aus globalen Prognosen genaue Vorhersagen auf regionaler Skala gemacht.
Neue Art von interdisziplinärer Zusammenarbeit
Diese neuen Techniken ersetzen die Arbeit der Historiker nicht, aber liefern eine wertvolle Ergänzung: Während die Reanalyse die dynamische Interpretation des dokumentierten Ereignisses ermöglicht, beschreiben die historischen Dokumente die Auswirkungen des rekonstruierten Wettersystems. Dadurch entsteht eine neue Art der interdisziplinären Zusammenarbeit, wie die Aufarbeitung der Katastrophe vom Dezember 1916 zeigt. Die Beobachtungen allein würden nur ein unvollständiges Bild ergeben, da gerade für die am meisten betroffenen Regionen nur für wenige Tage Beobachtungen existieren. „Downscaling“ und Beobachtungen zusammen hingegen geben aber einen detaillierten Einblick in das Ereignis und erlauben eine physikalisch sinnvolle Interpretation. Damit sind die wichtigsten Zutaten der extremen Wettersituation erfasst: über Tage blockierte Zirkulation, warmes Mittelmeer, Feuchtetransport sowie Temperaturanstieg.
Die Aufarbeitung der Hintergründe, die zur Lawinenkatstrophe im Dezember 1916 führte, zeigt auch die gesellschaftliche Verletzlichkeit. In Kombination mit der Analyse der aussergewöhnlichen meteorologischen Verhältnisse erlaubt dies, Veränderungen in einem zukünftigen Klima und einer zukünftigen Gesellschaft zu untersuchen, um so das zukünftige Risiko zu beurteilen. Extreme Wetterereignisse der Vergangenheit sowie in der Zukunft können damit besser verstanden werden.
(Quelle: «Dezember 1916: Weisser Tod im Ersten Weltkrieg» Geographica Bernensia, Geographisches Institut der Universität Bern)